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Channel: Seite 384 – Unser Havelland (Falkensee aktuell)
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Ribbecker Schlossgespräche starten mit Dr. Wolfgang Thierse!

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Es tut sich etwas auf Schloss Ribbeck. Geschäftsführer Frank Wasser verkündete am 4. Oktober vor etwa 50 Besuchern im großen Saal: „Heute eröffnen wir eine ganz neue Reihe – die Ribbecker Schlossgespräche. Die Idee dazu hatte ich bereits vor einem dreiviertel Jahr gemeinsam mit Thomas Baumann, dem ehemaligen Chefredakteur vom ARD-Hauptstadtstudio. …

… Wir sind der Meinung, dass Schloss Ribbeck ein wunderbarer Ort ist für eine Veranstaltungsreihe, in der wir regelmäßig Menschen aus Kultur, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu einer Gesprächsrunde einladen, in die das Publikum aktiv mit eingebunden wird.“

Für die erste Gesprächsrunde hatten die Veranstalter Dr. Wolfgang Thierse eingeladen. Thierse wurde 1943 in Breslau geboren, studierte Kulturwissenschaft und Germanistik an der Berliner Humboldt-Universität. Sein politisches Engagement für die 1990 neu in der DDR gegründete SPD führte ihn zunächst in den Bundestag. Von 1998 bis 2005 war er Präsident des Deutschen Bundestages, von Oktober 2005 bis Oktober 2013 dessen Vizepräsident. Auch als Bundestagspräsident a.D. hat er weiterhin viel Spaß an der Politik und referiert mit viel Humor und mit Freude an den Verwinklungen der deutschen Sprache über deutsche Themen.

Das Thema der ersten Ribbecker Schlossgespräche lag freilich auf der Hand: „30 Jahre deutsche Einheit – was haben wir daraus gemacht?

Die erste Frage von Thomas Baumann war gleich besonders spannend. Wie fühlt er sich, der Politiker Thierse, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung? Als Ossi, als Deutscher? Dr. Wolfgang Thierse: „Man hat einmal über mich gesagt: Thierse, der gesamtdeutsche Ossi. Da ist etwas Wahres dran. Natürlich empfinde ich mich als Deutscher. Ich habe aber auch 40 Jahre DDR hinter mir. Meine ostdeutsche Prägung kann ich da nicht vergessen, im Guten wie im Schlechten. Im Rückblick war die DDR natürlich auch eine Notgemeinschaft gegen den allgegenwärtigen Mangel. Man hielt zusammen, weil man es musste. Daran darf man sich doch auch gern erinnern. In den Ostdeutschen steckt ein ganz starker Sinn für Gerechtigkeit und auch Gleichheit. Die sozialökonomischen Unterschiede waren ja auch gering, da ging es oft nur um die Frage: Trabi oder Wartburg? Wichtig finde ich: Wir West- und Ostdeutschen, wir müssen uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten erzählen. Das hat leider viel zu wenig stattgefunden.“

Ist denn die Wiedervereinigung gelungen? Dr. Wolfgang Thierse: „Wir müssen ganz klar sagen: Der westdeutsche Sozialstaat hat viele Millionen Menschen aufgefangen, er hat funktioniert. Es gab keine Massenarmut. Die Stimmung ist heute schlechter als die Lage. Die Ostdeutschen müssen begreifen, dass es den Osten nicht mehr gibt. Wir haben stattdessen einen Flickenteppich aus wirtschaftlich erfolgreichen und wirtschaftlich schwierigen Regionen. Leipzig, Jena, Dresden – diesen Städten geht es richtig gut. Die Ostdeutschen müssen doch einmal den eigenen Erfolg wahrnehmen. Hinzu kommt: Die Bevölkerung verändert sich, es entsteht eine neue deutsche Mischung. Vier Millionen Menschen sind aus dem Osten in den Westen gezogen – und 2,5 Millionen Wessis in den Osten. Diese Durchmischung sieht man am ehesten in den Universitätsstädten. Das gibt mir Anlass zur Hoffnung.“

Hätte die Wiedervereinigung anders verlaufen können? Hätte es die Chance auf einen eigenen Weg gegeben? Dr. Wolfgang Thierse: „Es musste damals alles ganz schnell gehen. Drei Faktoren gab es, die das Tempo angeheizt haben und die dafür gesorgt haben, dass Ostdeutschland ganz schnell unter das rettende Dach der BRD geschlüpft ist. Erstens: Die Ostdeutschen haben gesagt: Wir wollen jetzt sofort die D-Mark. Kommt sie nicht zu uns, gehen wir zu ihr. Zweitens: Die DDR war wirtschaftlich komplett am Ende. Drittens: Die Ossis haben auf einmal nur noch Westprodukte gekauft und die eigenen Produkte in den Regalen stehen lassen.“

Der Bundestagspräsident a.D. weist aber darauf hin, dass man, obwohl der Ablauf der Dinge vorgegeben war, einiges hätte besser machen können: „Nach der Wiedervereinigung hätten wir Ossis uns gewerkschaftlich besser organisieren müssen, das kam einer Selbstschwächung gleich. Es fehlte eine Interessenvertretung. Und – auch die friedlichste Revolution bringt immer einen Personalwechsel mit sich. Wir wollten die Richter und Staatsanwälte nicht mehr haben und auch keinen Karl-Eduard von Schnitzler. Aber: Die Westdeutschen rückten auf die leeren Posten nach und brachten auch noch ihre Leute mit. Da hätten die Ostdeutschen selbst nachrücken müssen.“

Dr. Wolfgang Thierse ist der Ansicht, dass die „Nachahmungsphase Ost in Richtung West“ nach 30 Jahren langsam einmal vorbei sein sollte: „Die Ostdeutschen tragen einen Rucksack mit Minderwertigkeitskomplexen mit sich herum. Wir waren immer die Schwächeren, der Westen war immer der Maßstab. Abends haben wir ja auch immer Westfernsehen geschaut. Ich sage: Schaut doch mal in die andere Richtung, nach Polen, nach Russland. Das tröstet doch. Auch die Ostdeutschen selbst müssen mehr miteinander reden – zwischen den Generationen, aber auch zwischen Arm und Reich.“

Letztendlich könne man als wiedervereintes Deutschland nach 30 Jahren aber nur nach vorn schauen. Und der folgende Thierse-Satz sei auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage: „Wir Deutschen leben jetzt wiedervereint in einem erstaunlich wohlhabenden Land in Frieden mit den Nachbarn und in Grenzen, die von allen Nachbarn akzeptiert werden. Wann gab es das in der deutschen Geschichte?“ Dr. Wolfgang Thierse warb zugleich für das europäische Modell: „Wir haben wirtschaftlichen Wohlstand, eine Rechtsstaatlichkeit und einen sozialen Ausgleich. Wo gibt es das sonst noch in der Welt?“

Weitere Ribbecker Schlossgespräche sollen drei bis vier Mal im Jahr stattfinden, Für die Zuschauer ist die Veranstaltung völlig kostenfrei. (Text/Fotos: CS)

Dieser Artikel stammt aus „FALKENSEE.aktuell – Unser Havelland“ Ausgabe 176 (11/2020).

Der Beitrag Ribbecker Schlossgespräche starten mit Dr. Wolfgang Thierse! erschien zuerst auf FALKENSEE.aktuell.


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